14 Oktober 2024

Die Würde gilt auch am Arbeitsplatz

Ausbeutung hat viele Gesichter: eine Bezahlung weit unterm Mindestlohn, Überstunden statt Urlaub, sogar Gewalt müssen manche Beschäftige ertragen. Wie diakonische „Beratungsstellen Arbeit“ die Menschen in prekären oder ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen unterstützen. 

 Ein Rentner hat einen Mini-Job angenommen. Er möchte sich ein bisschen Geld dazu verdienen. Bei einer Inventur-Agentur hat er einen Arbeitsvertrag unterschrieben und wird nun regelmäßig morgens um 5 Uhr an einen gemeinsamen Treffpunkt gebeten: Hier werden die Mitarbeitenden auf die verschiedenen Supermärkte verteilt. Allerdings kommt es bei diesen Treffen regelmäßig vor, dass die Mini-Jobber wieder nach Hause geschickt werden, weil es nicht genug Einsatzstellen gibt. Es wird kein Lohn ausgezahlt, der Einsatz in aller Frühe war vergebens. „Auch Arbeitnehmende in einem Mini-Job-Verhältnis haben Rechte“, sagt Stella Brückner vom Kölner Arbeitslosenzentrum (Kalz).

Wege aufzeigen

Die „Beratungsstelle Arbeit“, die unter anderem von der Diakonie getragen wird, will Menschen in genau diesen Situationen unterstützen und an ihre Rechte erinnern. „Der Fall des Rentners ist leider ein klassischer Fall“, sagt die Beraterin. Im Gespräch mit dem Herrn in der Beratungsstelle kam außerdem heraus: Dem Mann war weder Urlaub bewilligt worden noch hatte er eine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erhalten. „Viele Menschen wissen nicht um ihre Rechte und sie wissen auch nicht, an wen sie sich in so einer Situation wenden können“, erklärt die Beraterin. 

Für Menschen, die sich in prekären oder sogar menschenunwürdigen Arbeitssituationen befinden, und für Betroffene von Arbeitsausbeutung haben viele Beratungsstellen Arbeit in den vergangenen Jahren spezielle Angebote geschaffen – so wie im Kölner Arbeitslosenzentrum. „Hier finden die Betroffenen Ansprechpersonen“, erklärt Anja Weidehaus von der Beratungsstelle. Sie stehen unter Schweigepflicht, hören zu und können häufig helfen.

Beispielsweise zeigen sie Ratsuchenden deren Rechte auf. Sie schreiben im Namen der Betroffenen Briefe an Arbeitgeber und zeigen mögliche Wege auf – zu Anwälten oder anderen Netzwerkpartnern. „Häufig ist es so, dass Menschen wegen eines Bauchgefühls oder eines ganz anderen Themas zu uns kommen, und wir entdecken dann, dass ihre Rechte bei der Arbeit nicht gewahrt werden“, erzählt Anja Weidehaus. 

Unter dem Mindestlohn

Das galt zum Beispiel für einen Mann, der aus einem Drittstaat nach Europa gekommen war – und noch schlechte Deutschkenntnisse hatte. Zwei Jahre lang hatte er als Koch in einem Fast-Food-Restaurant gearbeitet – 160 Stunden im Monat für den Mindestlohn. „Nach seiner Kündigung suchte er bei uns Unterstützung für die Beantragung von Arbeitslosengeld, und wir stellten fest, dass der Mindestlohn über Monate unterschritten worden war“, erzählt Anja Weidehaus. Der Mann hatte jeden Tag mehr als zehn Stunden arbeiten müssen – statt der vertraglich vereinbarten acht Stunden. Die Beraterinnen machten den Mann darauf aufmerksam, dass die Unterschreitung des Mindestlohns bis zu drei Jahre rückwirkend angezeigt werden kann. 

Viele Branchen betroffen

Mini-Jobs, Gastronomie und auch Paketdienstleistung: „Es gibt viele Branchen, in denen wir häufig auf prekäre Arbeitssituationen stoßen“, sagen die Beraterinnen und erzählen von einem Betroffenen, der eine besonders gewalttätige Geschichte per Mail an die Beraterinnen herantrug.

Der Mann arbeitete als Angestellter für ein Sub-Unternehmen eines großen Paketdienstleisters. „Er fiel wegen Rückenschmerzen mehrere Wochen aus“, erzählt Stella Brückner. An dem Tag, an dem er zurückkehrte, fand er deutlich mehr Pakete vor, als er in den Zustellwagen laden konnte. Er ließ also vorerst einen Teil zurück. Noch auf der Fahrt bekam er einen Anruf seines Vorgesetzen: „Er wurde angeschrien und zu einem Treffpunkt an eine Tankstelle beordert“, erzählt die Beraterin. Dort wartete der Vorgesetzte schon in Begleitung: „Der Mann wurde geschlagen und später richtig verprügelt, der Schlüssel des Wagens wurde ihm abgenommen, er bekam keinen Lohn und sollte Schadensersatz für nicht zugestellte Pakete bezahlen“, schildert Stella Brückner. Die Beraterinnen zeigten ihm den Weg zu einem Anwalt auf, der auch seine Sprache beherrschte: Und der Betroffene klagte.

Wertvolles Netzwerk

Anja Weidehaus (li.) und Stella Brückner von der „Beratungsstelle Arbeit“ unterstützen Arbeitnehmende dabei, zu ihren Rechten zu kommen.

Viele Menschen suchen inzwischen Rat wegen prekärer Arbeitssituationen. „Es gibt sehr viele Anfragen, wir sind ausgelastet“, erzählen die beiden Beraterinnen. Und es entstehe ein wertvolles Netzwerk, stellen Anja Weidehaus und Stella Brückner fest. Der Opferschutzkoordinatoren des Zolls sitzen mit im Boot, Gespräche mit dem Job-Center und der Agentur für Arbeit seien angelaufen, mit anderen Beratungsstellen sei man in Kontakt, und sie vermitteln Verdachtsfälle.

„Allerdings haben wir Sorge vor dem Tag, an dem ein Betroffener vor unserer Tür steht und ganz akute Hilfe nötig ist“, sagen die Beraterinnen und denken an Situationen, in denen Menschen von Arbeitgebern ausgebeutet und in unwürdigen Wohnsituationen untergebracht worden sind. „Dann haben wir wenig Handlungsmöglichkeiten, die Betroffenen an einen sicheren Ort unterzubringen, wo sie auch vor den Arbeitgebern geschützt sind“, sagen die Beraterinnen und wünschen sich eine gemeinsame Suche nach Lösungen – mit Trägern, Politik und Behörden.

Unkonventionelle Lösungen

„Wir brauchen dabei auch die Offenheit für neue, unkonventionelle Lösungen“, betont Ina Heythausen, Referentin für „Berufliche und soziale Integration“ im Diakonischen Werk Rheinland-Westfalen-Lippe. Sie wünscht sich regionale Netzwerke, die gemeinsam gegen prekäre und ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse vorgehen. Das Thema habe in den vergangenen Jahren an Gewicht gewonnen, erinnert Ina Heythausen. Nach den Skandalen in der Fleischindustrie habe die Politik in NRW reagiert. Die in jedem Kreis und jeder kreisfreien Stadt vorhandenen Beratungsstellen Arbeit hätten sich früher vor allem um Arbeitslosigkeit und soziale Fragen gekümmert. Nun böten sie auch „Beratung in prekären Arbeitsverhältnissen oder bei Ausbeutung“ an.

„Es ist eine Herausforderung, die Zielgruppe auch zu erreichen und sie zu ermutigen, sich gegen Ausbeutung zu wehren“, weiß die Fachfrau. Vor allem für die aus europäischen Nachbarstaaten zugewanderten Menschen sei ihre Arbeitsstelle die einzige Absicherung. Sie hätten oftmals kein Recht auf staatliche Unterstützung, und ihnen drohe Wohnungs- und Mittellosigkeit, wenn sie ihre Arbeit verlieren würden. 

Welttag der menschenwürdigen Arbeit 

Ina Heythausen, Referentin für „Berufliche und soziale Integration“ in der Diakonie RWL, wünscht sich regionale Netzwerke, die gemeinsam gegen prekäre und ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse vorgehen.

Rund um Welttag der menschenwürdigen Arbeit am 7. Oktober stellen sich deswegen viele Mitarbeitende der Beratungsstellen in NRW ganz bewusst in die Fußgängerzonen: Die Beratungsstelle in Hagen wird an einem Infostand über Arbeitsrechte und Beratungsangebote informieren, auch in Gummersbach und Schwelm wird es Infostände in den Städten geben. Währenddessen lädt die Beratungsstelle in Remscheid zur offenen Sprechstunde ein, in Wesel gibt es im „Café Komm“ einen Tag der offenen Tür. „Und viele Akteure nutzen den Tag auch, um die Netzwerkarbeit weiter zu stärken“, sagt Ina Heythausen. In Rheda- Wiedenbrück beispielsweise wird ein Kongress für menschenwürdige Arbeit stattfinden, das Kalz ist an einer Fortbildung für Multiplikator*innen zum Thema beteiligt. 

Text: Theresa Demski, Fotos: Diakonie RWL, Kalz, Pixabay, Shutterstock